Die materialistische Lehre, daß die Menschen Produkte der Umstände und der Erziehung, veränderte Menschen also Produkte anderer Umstände und geänderter Erziehung sind, vergißt, daß die Umstände eben von den Menschen verändert werden und daß der Erzieher selbst erzogen werden muß. Sie kommt daher mit Notwendigkeit dahin, die Gesellschaft in zwei Teile zu sondern, von denen der eine über der Gesellschaft erhaben ist.
Das Zusammenfallen des Änderns der Umstände und der menschlichen Tätigkeit kann nur als umwälzende Praxis gefaßt und rationell verstanden werden.

Goodbye Kapital

von Guenther Sandleben

Lässt sich revolutionäre Gewaltanwendung als ein Mittel zur Herstellung oder Beförderung menschlicher Freiheit und menschlichem Glück rechtfertigen, fragte einst Herbert Marcuse in seinem Essay „Ethik und Revolution“. Ja, antwortete er, die Revolution ist historisch gerechtfertigt und notwendig, da die bestehende Wirklichkeit, in der wir leben, hinter den realen Möglichkeiten zurückfällt. Diese Kluft hielt Marcuse für berechenbar, indem der tatsächliche Einsatz materieller und geistiger Ressourcen mit alternativen Verwendungs- und Verteilungsweisen verglichen wird.

„Goodbye Kapital“ ist die revolutionäre Antwort auf eine Produktions- und Verteilungsweise, die mittlerweile nicht nur eine Ausweitung von Freiheit und Glück blockiert, sondern verheerende ökonomische, soziale und ökologische Verwerfungen produziert und die Grundlagen menschlicher Existenz untergräbt. Die Autoren Christian Hofmann und Philip Broistedt geben ihrem Buch, das Mitte 2020 im PapyRossa Verlag als Taschenbuch erscheint, den Untertitel: „Die Alternative zu Geld, sozialem Elend und ökologischer Katastrophe “. Dies ist keineswegs eine akademische Angelegenheit. Die Protestwellen ab 2011 haben Geld und Kapital unter verschiedenen Gesichtspunkten heftig kritisiert: Anfangs stand die Kritik an den Finanzmärkten, den Banken und den Fonds im Vordergrund, dann kam die Kritik am Profitsystem, das im Zuge der schweren Wirtschafts- und Finanzkrise von 2008/09 zu Arbeitslosigkeit, Sozial- und Lohnkürzungen und später zu unbezahlbaren Mieten führte, schließlich eroberte die Fridays-for-Future-Bewegung die Straßen und öffentlichen Plätze . Die beiden Autoren analysieren Vorstellungen und Forderungen der Protestbewegung und stellen mit Bezug auf die Geldauffassungen der Protestbewegungen fest: “Insgesamt war die Kritik noch sehr widersprüchlich und teilweise diffus. So ist Kritik an Geld und Banken weit davon entfernt, grundsätzlich progressiv zu sein.“

Die Autoren empfinden solche Unzulänglichkeit als eine Aufforderung, das Geld näher zu analysieren, um nach Alternativen Ausschau zu halten, inwieweit andere Arbeits-, Verteilungs- und Konsumweisen jenseits bestehender Geldverhältnisse zu sichereren und erheblich verbesserten Lebensverhältnissen führen. Die Geldverhältnisse schließen das Kapitalverhältnis als „dritte Bestimmung des Geldes“ (Marx) ein, also das Geld als Kapital und damit auch das Verhältnis von Lohnarbeit und Kapital und den Zwang der Konkurrenz zur endlosen Verwertung des vorgeschossenen Geldwerts, zur Geldgier und zu einer maßlosen Bereicherungssucht. Sie schließen ebenso die Warenproduktion ein, die in einer merkwürdigen Zerstückelung des arbeitsteiligen Zusammenhangs in eine Vielzahl von Privatproduzenten besteht, die durch Kauf und Verkauf miteinander verbunden sind. Die Autoren erklären mit einfachen und klaren Worten die historisch-spezifische gesellschaftliche Form der Arbeit: Statt unmittelbar gesellschaftlich zu sein, ist die Arbeit, die Waren produziert, nur mittelbar gesellschaftlich. Sie wird privat meist in kapitalistischen Unternehmen verausgabt. Ihr gesellschaftlicher Charakter zeigt sich erst im Austausch, nachdem die Ware produziert, d. h. die Arbeit darin vergegenständlicht ist. Der gesellschaftliche Charakter der Arbeit erscheint deshalb als ein Gegenstand, als Geld, das den Wert der Ware und indirekt die Arbeitszeit relativ misst und der Warenzirkulation dient.

Dieser komplizierte, zu schweren Krisen neigende gesellschaftliche Zusammenhang der Warenproduktion lässt sich nach Auffassung der Autoren durch „Plan und Arbeitszeitrechnung“ stark vereinfachen und ökonomisieren. „Wenn das Geld überwunden werden soll, muss dieser Mechanismus durch etwas anderes ersetzt werden, eben durch die bewusste Planung der Produktion und Distribution, weil nur so die blinde, nachträgliche Feststellung der Nützlichkeit der Produktion über Wert und Markt überwunden werden kann. Rationelle und nachhaltige Organisation der Produktion und Reproduktion lautet das Motto. Von diesem Standpunkt aus betrachtet ist die heutige Überproduktionskrise dann endlich eine Absurdität.“ Der Geldausdruck der gesellschaftlichen Arbeit, die sachlich verkorkste Messung der Arbeitszeit durch das Geld entfällt und es kann das natürliche Maß der Arbeit, die Arbeitszeit, direkt verwendet werden. „In der Arbeitszeitrechnung finden wir die gesellschaftlichen Funktionen wieder, die in der Warenwirtschaft das Geld übernommen hat: Messen, Vermitteln und Repräsentieren. Allerdings nicht in der gegenständlichen Gestalt eines anderen Wertes, sondern unmittelbar.“ Voraussetzung für diese Arbeitszeitrechnung sind Produktionsmittel, die sich im gemeinschaftlichen Besitz assoziierter Produzenten befinden.

Die Autoren geben einen Überblick, wie der gesamtgesellschaftliche Produktionsprozess organisiert werden kann, und sie stellen elementare Überlegungen an, wie die ökonomische Reproduktion der Gesellschaft durch eine entsprechende Proportionierung der Konsum- und Produktionsmittelproduktion von statten gehen kann. Die durch Ware, Geld und Kapital stark verkomplizierten gesellschaftlichen Verhältnisse erhalten auf der Grundlage der Arbeitszeitrechnung eine einfache und überschaubare Struktur, ohne dass ein von der Gesellschaft getrennter Staat erforderlich wäre. „Einen Staat als Eigentümer, der über der Gesellschaft steht (um das Eigentum aller treuhänderisch zu verwalten), braucht es für die gesellschaftliche Arbeitsverteilung ebenso wenig wie von der Gesellschaft abgehobene Bürokratien und Apparate, die die Verwaltung und Organisation übernehmen. Denn die Individuen können ihren gesellschaftlichen Prozess selbst in die Hand nehmen.“

„Goodbye Kapital“ verweist auf eine Gesellschaft, die auf einem erheblich höheren Niveau steht, was gesicherte Lebensverhältnisse, Glück und Freiheit anbelangt: Selbstbestimmung in der Produktion, grundlegende Umgestaltung der Arbeitsweise, Beseitigung unnützer Tätigkeiten, die zusammen mit dem Geld- und Kapitalverhältnis verschwinden (Werbebranche, Makler, Notare etc.) müssen, radikale Verkürzung der Arbeitszeit, Beseitigung einseitiger und stupider Tätigkeiten durch Abwechslung in der Arbeit („Aufhebung der Arbeitsteilung“) und – wenn nötig – durch Einsatz arbeitsaufwendiger Maschinen, Ende der ökonomischen Krisen und der verheerenden sozialen und ökologischen Verwerfungen.

Die Autoren liefern in ihrem Buch eine Reihe berechenbarer Größen, die deutlich machen, wie groß inzwischen die Kluft zwischen realer Möglichkeit und Aktualität, zwischen dem Vernünftigen und dem Wirklichen geworden ist. Sie formulieren die Notwendigkeit der Revolution – oder in den Worten Marcuses – eine „Ethik der Revolution“, die den Sturz einer „rechtmäßig etablierten Regierung und Verfassung durch eine soziale Klasse oder Bewegung, deren Ziel es ist, die gesellschaftliche wie die politische Struktur zu verändern.“ Dass die Autoren mit ihrer radikalen Kritik des Geldverhältnisses und dem Entwurf einer Alternative dazu keineswegs die Ersten sind, sondern sich einreihen in eine lange Geschichte der Kritik, die mit den kapitalismuskritischen Utopien und den Frühsozialisten einsetzte, schmälert keineswegs die Freude an einem Buch, das eine Vielzahl anregender Gedanken enthält.

Christian Hofmann, Philip Broistedt: Goodbye Kapital, Die Alternative zu Geld, sozialem Elend und ökologischer Katastrophe, PapyRossa Verlag, 2020, Taschenbuch, ISBN: 9783894387402

(Eine gekürzte Fassung findet sich in der jw und eine kleine Debatte darum auf guenther-sandleben.de. Diese ursprüngliche Version erhielten wir vom Autor mit freundlicher Genehmigung zur Veröffentlichung…)

assoziation.info Dezember '20