Die materialistische Lehre, daß die Menschen Produkte der Umstände und der Erziehung, veränderte Menschen also Produkte anderer Umstände und geänderter Erziehung sind, vergißt, daß die Umstände eben von den Menschen verändert werden und daß der Erzieher selbst erzogen werden muß. Sie kommt daher mit Notwendigkeit dahin, die Gesellschaft in zwei Teile zu sondern, von denen der eine über der Gesellschaft erhaben ist.
Das Zusammenfallen des Änderns der Umstände und der menschlichen Tätigkeit kann nur als umwälzende Praxis gefaßt und rationell verstanden werden.

staatsfeind marx zu staat und revolution

Im Zusammenhang mit unserem Buch Goodbye Kapital haben wir jüngst von je unterschiedlichen Seiten die Vorwürfe ‚Anarchismus‘, ‚Stalinismus‘ und ‚Lassalleanismus‘ erhalten. Für alle, die wissen möchten, wie wir zu genannten historischen Schlagworten stehen, haben wir einen Artikel von Micha aus dem Archiv geholt. Von seinen theoretischen Aussagen her finden wir den Artikel nach wie vor lesenswert, auch wenn wir heute vielleicht nicht mehr die Notwendigkeit sehen würden, Lenins Auffassungen überhaupt so prononciert darzustellen, wie der Artikel es noch tut. Wie die Auseinandersetzung mit Lenin sind für uns die Beschäftigung mit Lassalle, Stalin oder „dem Anarchismus“ Kämpfe um das Verständnis der Vergangenheit, die unserer Ansicht nach nur die Zukunftsperspektive aufweisen, sich von diesen untergegangenen Ansichten lösen zu müssen, sie hinter sich zu lassen, um nicht in alte Fehler zu verfallen. Hierzu haben wir auch in unserem Buch Stellung bezogen. Wer „Goodbye Kapital“ wirklich liest, kann z.B. nur schwerlich behaupten, dass dort Lassalles Ideen von ‚Produktivassoziationen der Arbeiter‘ oder des ‚vollen Arbeitsertrages‘ das Wort geredet wird. Auch unser Verhältnis zu „Demokratie“ oder „Realsozialismus“ kann man sich dort ansehen, bevor man vorschnell zu Vorwürfen mit historischen Schlagworten greift. Aber uns wäre es vor allem wichtig, auf Grundlage der Kritik der politischen Ökonomie, der marxschen Werttheorie, Vorschläge zur Überwindung der heutigen Gesellschaft mit ihren aktuellen Problemen und Katastrophen zu erarbeiten. Hierzu gehörte dann auch eine Auseinandersetzung über die politischen Formen einer solchen Überwindung, die sich den heute aufgeworfenen Fragen von Infragestellung der Nation, Zusammenschlüssen wie der EU und Autonomie von Regionen bzw. Kommunen stellt. Oder der Frage von Vertretungskörperschaften und direkter Interessendurchsetzung, bei der wir ebenfalls vor allem bei Marx (z.B. seine Kommuneschrift) Möglichkeiten zur Anregung erkennen. In diesem Sinne zeigt der folgende Text lediglich, dass man mit Lenin ebenso wenig Perspektive gewinnt wie mit Lassalle, Stalin oder Bakunin.


lenins wohl bekannteste schrift „staat und revolution“ gilt nach wie vor als authentische darstellung einer vermeintlich marxistischen staatstheorie. diese annnahme wird schon durch den charakter der schrift nahegelegt. denn ihr inhalt besteht nur aus marx-engels-zitaten mit weitläufigen lenin-kommentaren.

doch bei genauerer betrachtung zeigt sich, dass marx eine diametrial entgegengesetze auffassung von der rolle des staates in der revolution hat als lenin.

lenin

lenin versucht, eine allgemeingültige staatstheorie zu formulieren, deren aussagen unabhängig sind von den konkreten historischen und ökonomischen umständen. deshalb genügt es ihm – mitten in der russischen revolution – sich mit „klassiker“-zitaten zu beschäftigen, anstatt zumindest auch den russischen staat zu analysieren.

dabei besteht für ihn eine revolution im wesentlichen in einem politischen umsturz, einem gewaltsamen machtwechsel. die revolution beginnt mit einer heftigen erschütterung der alten machtverhältnisse, so dass sich neben den alten neue staatsformen bilden (doppelherrschaft), und endet mit dem zerbrechen der alten staatsmacht und dem aufbau einer neuen.

soweit die leninistische staatstheorie, die nicht nur von marxisten-leninisten aller coleur – egal ob sie sich jetzt trotzkisten, stalinisten oder sonstwie nennen – geteilt wird, sondern tief in den köpfen der meisten linken sitzt.

marx

marx indessen hat in allen diesen punkten eine entgegengesetze auffassung.

erstens formuliert er keine überhistorische staatstheorie, sondern untersucht konkrete ereignisse, aus denen er verallgemeinernde schlüsse zieht, die durch jede neue entwicklung wieder in frage gestellt werden. das beste beispiel für dieses methodische vorgehen bietet seine schrift „der bürgerkrieg in frankreich“, in der er entgegen seinen früheren ansichten die kommune als die endlich entdeckte form der politische befreiung der lohnarbeiter bezeichnt. diese nicht von ihm erdachte, sondern vom politischen leben erschaffene form der revolution ist ihm so wichtig, dass er 1872 in der ersten deutschen neuauflage des manifests im vorwort auf diese weiterentwicklung seiner auffassung des verhältnisses von staat und revolution ausdrücklich hinweist.

in seiner kritik am gothaer programm der deutschen staatssozialisten drei jahre später fasst er diese gedanken dann allgemeiner. diese kritik wurde erst 1890 in der „neuen zeit“ in verstümmelter form veröffentlicht. hätten anarchistische kritiker wie bakunin oder kropotkin (proudhon war schon tot), diese schrift wahrgenommen, wäre der nachwelt sicher ein schweres missverständnis erspart geblieben. denn diese anarchistische kritik am „marxismus“ verwechselt die durch lassalle und hegel geprägten ansichten der deutschen sozialdemokraten vom volksstaat mit den ansichten von marx. dieser verwechslung unterlagen auch – mit positivem vorzeichen – die russichen marxisten wie plechanow und lenin.

die unterschiede beginnen schon bei dem, was man sich unter revolution vorzustellen habe. für marx ist eine revolution viel mehr als ein politischer umsturz. er bezeichnet als revolution eine umwälzungsperiode, die über mehrere jahrzehnte geht und an deren ende alle verhältnisse revolutioniert wurden: die ökonomischen, die sozialen wie politischen als auch die kulturellen. die menschen nach der revolution – obwohl noch in den selben körpern steckend wie vorher – sind gänzlich verschieden von den persönlichkeiten, die sie vor der revolution verkörperten.

mit dieser umwälzungsperiode beginnt das absterben des staates, die aufhebung der klassen und der wertökonomie. an ihrem ende gibt es weder einen staat, noch klassen noch wertverhältnisse. am anfang der revolution steht das zerbrechen des staates, aber seine einzelteile wie beispielsweise polizei, militär, gefängnisse bestehen weiter. im revolutionären prozess verwandeln die volksmassen selbst diese institutionen aus ihnen gegenüberstehenden gewalten sie beherrschender klassen in von ihnen selbst verwaltete organe. das meint marx mit zurücknahme des staates in die gesellschaft. gesellschaftliche funktionen, die sich die herrschenden klassen angeeignet haben, um ihre herrschaft zu sichern, entgleiten ihnen, werden zum teil mit dem verschwinden der klassen überflüssig oder zum anderen teil durch die eigenaktivität der bevölkerung völlig verändert in ihrem aussehen und charakter. am ende der revolution existiert diese zweiteilung der gesellschaft in gesellschaft und staat nicht mehr. die gesellschaft hat sich die ihr als staat entfremdeten eionrichtungen wieder angeeignet, soweit sie überhaupt noch notwendig sind.

unterschiede

während sich für lenin letztlich alles um die machtfrage dreht, steht bei marx die selbsttätigkeit der leute im vordergrund. bei lenin ist die entscheidende frage die, wer die macht im staat besitzt. nachdem die angebliche avantgarde der partei die macht erobert hat, besitzt man alle mittel, um die massen zu erziehen. der staat stirbt dann schon von selbst ab.

bei marx indessen ist die entscheidende frage, den staat von anbeginn der revolution aufzuheben. das absterben des staates ist ein langwieriger revolutionärer prozess, in dem die „erzieher“ – oft sehr rüde – von den angeblich zu erziehenden erzogen werden. dieses absterben passiert nicht von alleine, es geschieht nur durch die eigenaktivität und selbstbestimmung der massen. es ist die zurücknahme gesellschaftlich notwendiger funktionen des staates. diese zurücknahme ist eine aktive handlung. von einem neu zu schaffenden revolutionären staat ist ohnehin nirgends die rede bei marx.

diesen unterschied zwischen marxismus und marx festzustellen ist nicht nur wichtig als ehrenrettung für den staatsfeind marx. dadurch wird auch durch aufhebung der verwechslung von deutschem marxismus und marx nicht nur der dialog mit „den anarchisten“ erleichtert. vor allem erleichtert diese rekonstruktion der marxschen auffassung des verhältnisses von staat und revolution das verständnis des modernen kapitalismus und der formen, die eine kommunistische revolution zur aufhebung des kapitalismus annehmen wird. denn durch die entwicklung der kapitalistischen ökonomie wird die selbstverwaltete revolution möglich und durch die entwicklung des bürgerlichen individuums ist eine andere nicht möglich.

Zuerst erschienen 2004

assoziation.info Juni '20