Die materialistische Lehre, daß die Menschen Produkte der Umstände und der Erziehung, veränderte Menschen also Produkte anderer Umstände und geänderter Erziehung sind, vergißt, daß die Umstände eben von den Menschen verändert werden und daß der Erzieher selbst erzogen werden muß. Sie kommt daher mit Notwendigkeit dahin, die Gesellschaft in zwei Teile zu sondern, von denen der eine über der Gesellschaft erhaben ist.
Das Zusammenfallen des Änderns der Umstände und der menschlichen Tätigkeit kann nur als umwälzende Praxis gefaßt und rationell verstanden werden.

Rosa Luxemburg: Zur russischen Revolution

Sozialistische Demokratie beginnt aber nicht erst im gelobten Lande, wenn der Unterbau der sozialistischen Wirtschaft geschaffen ist, als fertiges Weihnachtsgeschenk für das brave Volk, das inzwischen treu die Handvoll sozialistischer Diktatoren unterstützt hat. Sozialistische Demokratie beginnt zugleich mit dem Abbau der Klassenherrschaft und dem Aufbau des Sozialismus. Rosa Luxemburg

Im März 1871 – vor genau 150 Jahren – wurde Rosa Luxemburg in Polen geboren. Da wir uns ohnehin vorgenommen hatten, im Zusammenhang mit unseren Vorstellungen von communistischer Arbeitszeitrechnung eine kleine Artikelserie zum Scheitern des bolschewistischen Sozialismusversuchs zu schreiben, ist dieser Jahrestag ein willkommener Anlass, auf Rosa Luxemburgs Stellung zur russischen Tragödie einzugehen. Die Zeit seit Beginn der Revolution in Russland Anfang 1917 bis zu ihrer Ermordung im Januar 1919 saß sie, mit Ausnahme ihrer zwei letzten Lebensmonate, auf Befehl des Deutschen Oberkommandos im Gefängnis. Obwohl sie aber die stürmische Entwicklung der russischen Revolution nach dem Oktober 1917 nur noch für 14 Monate miterleben konnte und den Umständen entsprechend bloß über unzureichendes Quellenmaterial verfügte, sind ihre Aufzeichnungen aus diesen Tagen das vielleicht weitsichtigste und scharfsinnigste, was zu jener Zeit aus marxistischer Warte zum „Oktoberaufstand“ zu Papier gebracht wurde. Und zwar sowohl was ihren Einblick in Verlauf und Triebkräfte der von ihr gefeierten Revolution angeht, als auch was Ausblick und Warnungen bezüglich der bolschewistischen Revolutionsmaßnahmen betraf. Kernstück ihrer diesbezüglichen Aufzeichnungen ist ein unvollendetes Manuskript, welches posthum unter dem Titel Zur russischen Revolution veröffentlicht wurde und in diesem Artikel einer Würdigung unterzogen werden soll.1

Größere Bekanntheit erlangte eigentlich nur die meist aus dem Zusammenhang genommene Mahnung Rosa Luxemburgs an die Adresse der Bolschewiki – „Freiheit ist immer Freiheit der Andersdenkenden“ – die ebenfalls aus dem Text Zur russischen Revolution stammt. Anders als von Liberalen und Sozialdemokraten behauptet wird, ist diese Aussage keineswegs als generelle Absage an die Revolution oder jegliche Form revolutionärer Gewaltmaßnahmen gemeint. Es handelt sich bei dieser Aussage aber auch nicht um ein später korrigiertes Missverständnis, oder eine Belanglosigkeit am Rande, wie nach wie vor gerne von Traditionskommunist:innen ins Feld geführt wird. Vielmehr bezog sich ihre schonungslose Kritik auf „Grundfehler der Lenin-Trotzkischen Theorie“. Dabei wehte, verglichen mit späteren Entwicklungen, im Jahr 1918 innerhalb der Bolschewiki noch ein vergleichsweise freiheitlicher Geist. Was Luxemburg erst zum Kadavergehorsam der damals im entstehenden Kommunistischen Internationale gesagt hätte, lässt sich aus ihrer Kritik leicht ableiten. Wer Zur russischen Revolution in Gänze gelesen hat, wird jedenfalls unschwer merken, dass Luxemburg ebenso wenig ins Pantheon der bolschewistischen Heiligen passt wie in die Ahnenreihe des ‚kritischen‘ bürgerlichen Liberalismus.

Treibende Kraft der Revolution

Anders als die deutsche (Mehrheits)sozialdemokratie oder die russischen Menschewiki erkannte Luxemburg, dass die „treibende Kraft der Revolution […] vom ersten Augenblick an die Masse des städtischen Proletariats“ war und dass es kein russisches Bürgertum gab, welches die Forderungen dieser treibenden Kraft 1917 im Rahmen einer bloß bürgerlichen Umwälzung erfüllen konnte oder wollte. Diese „Forderungen erschöpften sich aber nicht in der politischen Demokratie, sondern richteten sich auf die brennende Frage der internationalen Politik: sofortigen Frieden. Zugleich stütze sich die Revolution auf die Masse des Heeres, das dieselbe Forderung nach sofortigem Frieden erhob, und auf die Masse des Bauerntums, das die Agrarfrage, diesen Drehpunkt der Revolution, schon seit 1905 in den Vordergrund schob. Sofortiger Frieden und Land – mit diesen beiden Zielen war die innere Spaltung der revolutionären Phalanx gegeben“.

Tatsächlich kumulierten die Bedürfnisse der Massen, die schließlich zum Stichwort der Oktoberrevolution wurden, in der griffigen Formel nach ‚Brot, Land und Frieden‘. Auch wenn alle drei Aspekte formal oder zumindest theoretisch im Rahmen einer bloß bürgerlichen Umwälzung hätten angegangen werden können, gab es 1917 außer den Bolschewiki faktisch keine politischen Kräfte in Russland, die sich der sofortigen Umsetzung dieser Forderungen verpflichteten. Aus der Besetzung dieser Leerstelle ergab sich der fast kometenhafte Aufstieg der Bolschewiki im Sommer 1917: „Dadurch erklärt sich, daß in jeder Revolution nur diejenige Partei die Führung und die Macht an sich zu reißen vermag, die den Mut hat, die vorwärtstreibende Parole auszugeben und alle Konsequenzen daraus zu ziehen. Daraus erklärt sich die klägliche Rolle der russischen Menschewiki, der Dan, Zereteli u.a., die, anfänglich von ungeheurem Einfluß auf die Massen, nach längerem Hin- und Herpendeln, nachdem sie sich gegen die Übernahme der Macht und Verantwortung mit Händen und Füßen gesträubt hatten, ruhmlos von der Bühne weggefegt worden sind“.

Sofortiger Frieden und Land – die Bolschewiki, und diesen voran Lenin und Trotzki, erkannten 1917 nicht nur diesen Dreh- und Angelpunkt der Revolution, sondern sahen auch klar, welche Klassen hierbei die Hauptrolle spielen mussten. Es war vergebens, auf das nur schwach entwickelte russische Bürgertum oder die oppositionellen Teile des russischen Adels zu setzen. Zur Lösung der Agrarfrage und zum Abschluss eines Friedensvertrages konnte sich die Revolution nur noch auf die Masse der Arbeiter und Bauern stützen. Die originäre russische Bauernpartei, die ‚Sozialrevolutionäre‘, sowie die Menschewiki, der zweite Flügel der russischen Arbeiterpartei, welche zunächst wesentlich mehr Einfluss besaßen, missverstanden die Situation gänzlich – „klammerten sich verzweifelt an die Koalition mit den bürgerlichen Liberalen“ – und wurden von den Ereignissen förmlich überrannt: „Die Entschlossenheit, mit der Lenin und Genossen im entscheidenden Moment die einzige vorwärtstreibende Losung ausgegeben haben: die ganze Macht in die Hände des Proletariats und der Bauern, hat sie fast über Nacht aus einer verfolgten, verleumdeten Minderheit, deren Führer sich wie Marat in den Kellern verstecken mußten, zur absoluten Herrin der Situation gemacht“.

Was geschaffen wurde, ist nicht gesellschaftliches Eigentum, sondern neues Privateigentum

Die Eroberung der politischen Macht durch die Bolschewiki im Oktober 1917 war letztlich möglich geworden, weil die politische Macht auf der Straße lag und bloß ergriffen werden musste. Dies war deshalb aber noch lange kein ‚Putsch‘, wie Heerscharen von bürgerlichen Geschichtsklitterern wieder und wieder behaupten. Die Crux lag vielmehr darin, dass die Mehrheit der Arbeiterklasse diese Machtergreifung forderte und die Mehrheit der Bauern – die mit deutlichem Abstand zahlenmäßig größte Klasse des Riesenreiches – ihr zumindest stillschweigend zustimmte, weil beide Klassen ihre Forderungen sonst nirgendwo mehr erblicken konnten. Allerdings, und dies ist der springende Punkt, hatte die Forderung der Bauernschaft nach Land zur eigenen Nutzung mit dem Übergang zu einer kommunistischen Gesellschaft nichts zu schaffen. Dass diese Problemstellung nicht bloß ein Schönheitsfehler war, hat Rosa Luxemburg deutlich auf den Punkt gebracht: „Die Besitzergreifung der Ländereien durch die Bauern auf die kurze und lapidare Parole Lenins und seiner Freunde hin: Geht und nehmet euch das Land! führte einfach zur plötzlichen chaotischen Überführung des Großgrundbesitzes in bäuerlichen Grundbesitz. Was geschaffen wurde, ist nicht gesellschaftliches Eigentum, sondern neues Privateigentum, und zwar Zerschlagung des großen Eigentums in mittleren und kleineren Besitz, des relativ fortgeschrittenen Großbetriebes in primitiven Kleinbetrieb, der technisch mit den Mitteln aus der Zeit der Pharaonen arbeitet“.

Die Bolschewiki waren hier getriebene der Ereignisse. Ihre erfolgreiche Eroberung der Macht am Jahresende 1917 hatte zur Voraussetzung, dass sie ihr eigenes Agrarprogramm verwarfen und statt dessen den Forderungen der Bauern nachkamen: „Lenins eigenes Agrarprogramm vor der Revolution war anders. Die Losung übernommen von den vielgeschmähten Sozialisten-Revolutionären [Sozailrevolutionäre d. Verf.] oder richtiger: von der spontanen Bewegung der Bauernschaft.“ Da die Sozialrevolutionäre sich 1917 unfähig zeigten ihr eigenes (Agrar)programm umzusetzen, ermutigten die Bolschewiki die Bauern dazu, dies in Eigenregie zu erledigen. Im Gegenzug dafür, das sie auf dem Land freie Hand bekamen, sollten sie die proletarisch-sozialistische Regierung anerkennen.

Dazu noch einmal Luxemburg: „Gewiß war die Losung der unmittelbaren sofortigen Ergreifung und Aufteilung des Grund und Bodens durch die Bauern die kürzeste, einfachste und lapidarste Formel, um zweierlei zu erreichen: den Großgrundbesitz zu zertrümmern und die Bauern sofort an die revolutionäre Regierung zu fesseln. Als politische Maßnahme zur Befestigung der proletarisch-sozialistischen Regierung war dies eine vorzügliche Taktik. Sie hatte aber leider ihre zwei Seiten, und die Kehrseite bestand darin, daß die unmittelbare Landergreifung durch die Bauern mit sozialistischer Wirtschaft meist gar nichts gemein hat“.

Ausgestaltung sowohl der Agrar- wie der Industrieproduktion nach einheitlichen Gesichtspunkten

Eine Revolution die nicht nur dem Anspruch nach sozialistisch genannt werden möchte, sondern einen unmittelbar sozialistischen oder communistischen Inhalt hätte, müsste sämtliche Produktionsmittel vergesellschaften. Dies wäre die Grundlage dafür, dass alle Arbeit von vornherein und direkt gesellschaftliche Arbeit wäre, die Grundlage für eine Produktion jenseits von Ware und Geld. Nur eine unmittelbar vergesellschaftete Produktion wäre die Grundlage dafür, die geleistete Arbeit direkt zu messen und als Recheneinheit für die Produktion zu nehmen, statt den Umweg über etwas drittes – den Wert – zu gehen (siehe Artikel AZR). Dass in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in Russland dafür sehr ungünstige Bedingungen bestanden, kann nicht geleugnet werden. Das beste Programm und die absolute Klarheit über dieses Problem hätten es nicht einfach aus der Welt geschafft. Luxemburg mahnt allerdings die Richtung an, auf welche die Bolschewiki sich einließen.

Aus ihrer Sicht muss die Revolution in Bezug auf die Agrarverhältnisse „das Eigentumsrecht vor allem auf die Nation […] übertragen; denn nur dies gewährt die Möglichkeit, die landwirtschaftliche Produktion nach zusammenhängenden großen sozialistischen Gesichtspunkten zu organisieren. Zweitens aber ist eine der Voraussetzungen dieser Umgestaltung, daß die Trennung der Landwirtschaft von der Industrie, dieser charakteristische Zug der bürgerlichen Gesellschaft, aufgehoben wird, um einer gegenseitigen Durchdringung und Verschmelzung beider, einer Ausgestaltung sowohl der Agrar- wie der Industrieproduktion nach einheitlichen Gesichtspunkten Platz zu machen. […] Nationalisierung des großen und mittleren Grundbesitzes, Vereinigung der Industrie und der Landwirtschaft, das sind zwei grundlegende Gesichtspunkte jeder sozialistischen Wirtschaftsreform, ohne die es keinen Sozialismus gibt“.

Deshalb muss eine „sozialistische Regierung, die zur Macht gelangt ist, […] auf jeden Fall eins tun: Maßnahmen ergreifen, die in der Richtung auf jene grundlegenden Voraussetzungen einer späteren sozialistischen Reform der Agrarverhältnisse liegen, sie muß zum mindesten alles vermeiden, was ihr den Weg zu jenen Maßnahmen verrammelt. Die Parole nun, die von den Bolschewiki herausgegeben wurde: sofortige Besitzergreifung und Aufteilung des Grund und Bodens durch die Bauern, mußte geradezu nach der entgegengesetzten Richtung wirken.“

Feind jeder sozialistischen Vergesellschaftung

Wie sehr Rosa Luxemburg Recht damit behalten sollte, dass die eigenmächtige Aufteilung des Großgrundbesitzes unter den Bauern bürgerliche Eigentumsformen stärkte und einer künftigen sozialistischen Reform der Agrarverhältnisse auf dem Land den Weg verrammelt hat, wurde durch die Geschichte grausam bewiesen. Die Hungersnot am Ende des Bürgerkrieges, die barbarischen Formen der Kollektivierung und Entkulakisierung der Landwirtschaft seit Ende der 1920er Jahre, das Desinteresse der Bauern an allen Formen kollektivwirtschaftlichen Eigentums, welches landwirtschaftliche Produktionsfortschritte verunmöglichte und die Entwicklung der gesamten Sowjetwirtschaft prägte – die Mahnungen Luxemburgs lesen sich retrospektiv wie eine böse Prophezeiung: „Die Leninsche Agrarreform hat dem Sozialismus auf dem Lande eine neue mächtige Volksschicht von Feinden geschaffen, deren Widerstand viel gefährlicher und zäher sein wird, als es derjenige der adligen Großgrundbesitzer war“. Oder an anderer Stelle: „Jetzt, nach der ‚Besitzergreifung‘ steht als Feind jeder sozialistischen Vergesellschaftung der Landwirtschaft eine enorm angewachsene und starke Masse des besitzenden Bauerntums entgegen, daß sein neuerworbenes Eigentum gegen alle sozialistischen Attentate mit Zähnen und Nägeln verteidigen wird“. Die Anzeichen der Formen, die dieser Konflikt annehmen sollte entgingen ihr dabei nicht: „Wie scharf der Gegensatz schon jetzt geworden ist, beweist der Boykott der Bauern den Städten gegenüber, denen sie die Lebensmittel vorenthalten, um damit Wuchergeschäfte zu machen, genau wie die preußischen Junker“.

Freiheit nur für die Anhänger der Regierung, nur für Mitglieder einer Partei – mögen sie noch so zahlreich sein – ist keine Freiheit

Aber nicht nur was ihre Kritik an der Agrarpolitik der Bolschewiki betrifft, lesen sich Luxemburgs Mahnungen im Nachhinein wie böse Prophezeiungen. Auch die politischen Formen der Revolution unterzog sie einer ebenso weitsichtigen wie schonungslosen Kritik. Wegweisend an ihren Ausführungen ist, dass sie dabei Sozialistische Demokratie und eine revolutionäre Diktatur des Proletariats nicht als Gegensätze behandelte, sondern in eins setzte. Heute, nach den Erfahrungen der barbarischen Formen, die die Herrschaft von Parteien angenommen hat, die sich auf den Kommunismus beriefen, mag die Wortwahl irritierend wirken, liegt aber durchaus im Einklang mit den Ursprüngen der Theorie. Auch Marx und Engels sahen die basisdemokratische Pariser Commune von 1871 als revolutionäre Diktatur des Proletariats, und dachten bei diesem Terminus nicht an die diktatorische Alleinherrschaft einer Partei.

In genau diesem Zusammenhang steht auch Luxemburgs Bemerkung von der Freiheit der Andersdenkenden. Vollständig lautet ihre Anmerkung: „Freiheit nur für die Anhänger der Regierung, nur für Mitglieder einer Partei – mögen sie noch so zahlreich sein – ist keine Freiheit. Freiheit ist immer nur Freiheit des anders Denkenden. Nicht wegen des Fanatismus der ‚Gerechtigkeit‘, sondern weil all das Belehrende, Heilsame und Reinigende der politischen Freiheit an diesem Wesen hängt und seine Wirkung versagt, wenn die ‚Freiheit‘ zum Privilegium wird.“ Luxemburg spricht hier gegen die Diktatur einer Partei und von der Freiheit auf der Grundlage der Revolution. Die Revolution bedarf der Freiheit um ihrer selbst willen und dies nicht am Sanktnimmerleinstag, sondern mit ihrem Beginn und als ihr Bestandteil: „Sozialistische Demokratie beginnt aber nicht erst im gelobten Lande, wenn der Unterbau der sozialistischen Wirtschaft geschaffen ist, als fertiges Weihnachtsgeschenk für das brave Volk, das inzwischen treu die Handvoll sozialistischer Diktatoren unterstützt hat. Sozialistische Demokratie beginnt zugleich mit dem Abbau der Klassenherrschaft und dem Aufbau des Sozialismus. Sie beginnt mit dem Moment der Machteroberung durch die sozialistische Partei. Sie ist nichts anderes als die Diktatur des Proletariats“.

Dass es drakonischer Maßnahmen gegen das bürgerliche Eigentumsrecht Bedarf, keinen Moment und keinen Deut zieht Luxemburg dies in Zweifel. Was sie klarstellt ist, dass die neue Gesellschaft, die Assoziation der freien Produzent:innen, nur auf freiwilliger und demokratischer Grundlage aufgebaut werden kann: Es ist „klar, daß der Sozialismus sich seiner Natur nach nicht oktroyieren läßt, durch Ukase [Erlass und Befehl, Anm. d. Verf.] einführen. Er hat zur Voraussetzung eine Reihe Gewaltmaßnahmen – gegen Eigentum usw. Das Negative, den Abbau kann man dekretieren, den Aufbau, das Positive nicht. Neuland. Tausend Probleme. Nur Erfahrung ist imstande, zu korrigieren und neue Wege zu eröffnen. Nur ungehemmt schäumendes Leben verfällt auf tausend neue Formen, Improvisationen, erhält schöpferische Kraft, korrigiert selbst alle Fehlgriffe“.

Im Umkehrschluss dagegen gilt. „Ja, jedes dauernde Regiment des Belagerungszustandes führt unweigerlich zur Willkür, und jede Willkür wirkt depravierend auf die Gesellschaft. Das einzige wirksame Mittel in der Hand der proletarischen Revolution sind auch hier: radikale Maßnahmen politischer und sozialer Natur, rascheste Umwandlung der sozialen Garantien des Lebens der Masse und – Entfachung des revolutionären Idealismus, der sich nur in uneingeschränkter politischer Freiheit durch intensiv aktives Leben der Massen auf die Dauer halten läßt“.

Dass die Befreiung der Arbeiterklasse nicht die Aufgabe von Intellektuellen oder einer Partei sein wird, sondern nur das Werk der Arbeiterklasse selbst sein kann, hatten bereits Marx und Engels festgestellt. Und ganz in diesem Sinne heißt es bei Luxemburg: „Die ganze Volksmasse muß daran teilnehmen. Sonst wird der Sozialismus vom grünen Tisch eines Dutzends Intellektueller dekretiert, oktroyiert“.

Verwirklichung des Sozialismus[!?]

Die Gedanken der letzten beiden Textabschnitte – also zu sozialistischer Landwirtschaft und sozialistischer Demokratie – scheinen sich in einer gewissen Ambivalenz zu befinden. Einerseits gesteht Luxemburg unumwunden, dass die „spontane Bewegung der Bauernschaft“ auf eine „sofortige Besitzergreifung und Aufteilung des Grund und Bodens“ drängte – also private Aneignung des Großgrundbesitzes. Eine Form der Neuverteilung der sie attestiert, spätere Formen einer sozialistischen Umgestaltung von Seiten der Bauern zu verhindern – „deren Widerstand [nun] viel gefährlicher und zäher sein wird, als es derjenige der adligen Großgrundbesitzer war“. Auf der anderen Seite fordert sie dezidiert aktives Leben der Massen und politische Freiheiten. Wenn aber der Wunsch der großen Masse sich zunächst auf sofortigen Frieden und Land beschränkte, eine private Landergreifung, die mit sozialistischer Wirtschaft meist gar nichts gemein hat, wozu bedarf es dann einer proletarisch-sozialistische Regierung? Worin soll ihre Aufgabe bestehen? Trotz allem gesagten lässt Luxemburg daran keinen Zweifel; es geht um die „Verwirklichung des Sozialismus“ !? Die Bolschewiki „haben sich […] das unvergängliche geschichtliche Verdienst erworben, zum erstenmal die Endziele des Sozialismus als unmittelbares Programm der praktischen Politik zu proklamieren“.

Dieser Widerspruch, die Ambivalenz – Verwirklichung des Sozialismus, obwohl die Masse der Bauernschaft daran (zunächst) kein Interesse daran hat – lag zum Zeitpunkt der Niederschrift des Textes in der objektiven Situation. Seinerzeit konnten alle Revolutionäre:innen, Rosa Luxemburg also einbegriffen, diese reale Problemstellung offensiv also nach vorne lösen. Sie alle konnten mit vollster Berechtigung hoffen, dass das Problem durch die zu erwartende internationale Revolution, vor allem die Revolution im Westen, sich erübrigt: „Die Revolution Rußlands war in ihren Schicksalen völlig von den internationalen [Ereignissen] abhängig. Daß die Bolschewiki ihre Politik gänzlich auf die Weltrevolution des Proletariats stellten, ist gerade das glänzendste Zeugnis ihres politischen Weitblicks und ihrer grundsätzlichen Treue, des kühnen Wurfs ihrer Politik“.

Unzweifelhaft waren auch die bolschewistischen Führer im Jahr 1917 noch davon ausgegangen, mit ihrer Oktoberrevolution den Anstoß für die Revolution im Westen zu geben. Es ging darum zunächst die Macht zu halten, bis die Revolution im Westen siegen würde. Alle Zeugnisse aus dieser Zeit sind eindeutig, das Gerede von der ‚Großen Sozialistischen Oktoberrevolution‘ eine später gestrickte Legende, der ‚Aufbau des Sozialismus in einem Land‘ eine Losung die erst Jahre später entstand. Da der russische Bauer im primitiven Kleinbetrieb […] technisch mit den Mitteln aus der Zeit der Pharaonen arbeitet> und die russische Industrie nur schwach entwickelt war und zusätzlich vom Krieg zerstört war, konnte nur die Revolution im industriell viel weiter fortgeschrittene Westen die proletarisch-sozialistische Regierung in Russland retten. Das russische Proletariat sollte im Bündnis mit einem siegreichen Proletariat im Westen eine gemeinsame Industrieproduktion so planen und steuern, dass es der Masse der Bauernschaft eine attraktive Perspektive hätte bieten können. Die Mittel aus der Zeit der Pharaonen sollten schnellstmöglich durch eine Vereinigung der Industrie und der Landwirtschaft überwunden werden – auf sozialistischer Grundlage.

Was einer proletarisch-sozialistische Regierung im rückständigen Bauernland Russland drohen würde, wenn die Revolution im Westen ausblieb, hatte Luxemburg bereits im August 1917, also vor der Machteroberung durch die Bolschewiki, bekundet: „Die Diktatur des Proletariats ist in Rußland – falls eine internationale Revolution ihr nicht rechtzeitig Rückendeckung schafft – zu einer betäubenden Niederlage verurteilt, gegen die das Schicksal der Pariser Kommune ein Kinderspiel gewesen sein dürfte“ (Luxemburg, Spartacus 6, GW 4, online unter https://www.marxists.org/deutsch/archiv/luxemburg/1917/08/brennidx.htm)

Auch in der etwas später verfassten Zur russischen Revolution hält sie an dieser komplett international gedachten Revolutionsstrategie fest. In diesem Sinne bekennt sie sich, trotz aller Kritik, zur Oktoberrevolution und lässt sich sogar zu der Formulierung hinreißen, dass überall dem Bolschewismus die Zunft gehört. Im Gegensatz zu den Zauderern und Zögerern der deutschen Sozialdemokratie, die lieber mit der junkerlichen Reichswehr paktierte, als mit den rebellierenden Arbeitern und Matrosen, war es tatsächlich das große Verdienst der Bolschewiki, im Dienst der internationalen Revolution vorangegangen zu sein. Nicht zufällig also beginnt Zur russischen Revolution mit einer deutlichen Schelte für die SPD, speziell Kautsky und endet mit den Worten: „In diesem Sinne bleibt ihnen [den Bolschewiki, d. Verf.] das unsterbliche geschichtliche Verdienst, mit der Eroberung der politischen Gewalt und der praktischen Problemstellung der Verwirklichung des Sozialismus dem internationalen Proletariat vorangegangen zu sein und die Auseinandersetzung zwischen Kapital und Arbeit in der ganzen Welt mächtig vorangetrieben zu haben. In Rußland konnte das Problem nur gestellt werden. Es konnte nicht in Rußland gelöst werden. Und in diesem Sinne gehört die Zukunft überall dem ‚Bolschewismus‘.“

Das Gefährliche beginnt dort, wo sie aus der Not die Tugend machen

Die vermeintliche Ambivalenz mit der Luxemburg den Bolschewiki und deren Machteroberung gegenüberstand, lag in der objektiven Situation: „Jede sozialistische Partei, die heute in Rußland zur Macht gelangt, muß eine falsche Taktik befolgen, solange sie als ein Teil der internationalen proletarischen Armee vom Gros dieser Armee im Stiche gelassen wird“ (Hervorhebungen im Original). Die objektive Situation in Russland war allerdings nur die eine Seite des Problems. Was die Bolschewiki aber daraus machten und vor allem, wie sie die aus der Not geborenen autoritären und oft barbarischen Maßnahmen verallgemeinerten und zu allem Überfluss als Weiterentwicklung des Marxismus darstellten, etwas ganz anderes. Dieses Gebaren machte aus dem Scheitern der russischen Revolution ein vermeintliches Scheitern des Marxismus. Ein Problem was bis heute auf allen lastet, die sich positiv auf die communistische Theorie beziehen, obwohl diese mit den damaligen russischen Verhältnissen nicht (mehr) das geringste gemein hat. Auch diesbezüglich liest sich Luxemburgs Schrift noch einmal wie eine böse Prophezeiung, auch wenn die Verfasserin kaum zu ahnen vermochte, welche Dimensionen dieser Missstand einmal annehmen sollte. Noch 100 Jahre nach Niederschrift dieser Zeilen lastet folgendes Phänomen wie ein Alp auf den Schultern des Marxismus:

„Das Gefährliche beginnt dort, wo sie [die Bolschewiki] aus der Not die Tugend machen, ihre von diesen fatalen Bedingungen aufgezwungene Taktik nunmehr theoretisch in allen Stücken fixieren und dem internationalen Proletariat als das Muster der sozialistischen Taktik zur Nachahmung empfehlen wollen. Wie sie sich damit selbst völlig unnötig im Lichte stehen und ihr wirkliches, unbestreitbares historisches Verdienst unter den Scheffel notgedrungener Fehltritte stellen, so erweisen sie dem internationalen Sozialismus, demzuliebe und um dessentwillen sie gestritten und gelitten, einen schlechten Dienst, wenn sie in seine Speicher als neue Erkenntnisse all die von Not und Zwang in Rußland eingegebenen Schiefheiten eintragen wollen, die letzten Endes nur Ausstrahlungen des Bankerotts des internationalen Sozialismus in diesem Weltkriege waren“.

Bereits wenige Jahre nach Luxemburgs Warnung wurde die aus den fatalen Bedingungen aufgezwungene Taktik der Bolschewiki unter dem Titel ‚Marxismus-Leninismus‘ kanonisiert. Die Kommunistische Internationale wurde genutzt um alle Kommunistischen Parteien zu ‚bolschewisieren‘, ihnen die neue Doktrin zu oktroyieren. Es kann nur als tragisch bezeichnet werden, dass innerhalb der Internationalen neben der KPdSU ausgerechnet die von Luxemburg kurz vor ihrer Ermordung mitbegründete KPD dabei eine führende Rolle spielte.

Das Wesen der sozialistischen Gesellschaft besteht darin, daß die große arbeitende Masse aufhört, eine regierte Masse zu sein, vielmehr das ganze politische und wirtschaftliche Leben selbst lebt und in bewußter freier Selbstbestimmung lenkt

Das Verhältnis der Ostblockkommunist:innen zu Rosa Luxemburg blieb paradox. Als Märtyrerin, die in der deutschen ‚Revolution‘ ermordet wurde, erfuhr sie Ehrerbietung und Verehrung. Als Theoretikerin dagegen wollte man ihr Werk am liebsten verschwinden lassen, was vor allem an der Tatsache lag, dass ihre antiautoritären Vorstellungen von sozialistischer Revolution und Freiheit weder mit der leninistischen Theorie, noch mit dem Alltag im Ostblock zusammenging.

Karl Marx starb 34 Jahre vor der Oktoberrevolution und hatte somit keine Möglichkeit, die Revolution, die sich stets auf ihn bezog, zu kritisieren. Rosa Luxemburg wurde immerhin Zeitzeugin der bolschewistischen Machteroberung und formulierte die dargelegten zentralen Kritikpunkte Zur russichen Revolution. Obwohl Luxemburgs Ansichten in allen entscheidenden Punkten entschieden kompatibler zu Marx theoretischen Auffassungen stehen, als diejenigen der Bolschewiki, vollbrachten diese das Kunststück, sich ohne mit der Wimper zu zucken auf Marx Theorie zu berufen, dagegen aber das ‚Luxemburgianertum‘ zu kritisieren.

Beim langjährigen Vorsitzenden der Kommunistischen Internationale, Sinowjew, klang das folgendermaßen: „Ohne eine Überwindung der Irrtümlichen Seiten des Luxemburgianertums ist eine wirkliche Bolschewisierung unmöglich. Allein der Leninismus vermag zum Leitstern kommunistischer Parteien der ganzen Welt zu werden. Alles was vom Leninismus abweicht, stellt auch eine Abweichung vom Marxismus dar“. (Sinowjew: Über die Bolschewisierung der Parteien. Reden vor der Erweiterten Exekutive, März/April 1925, Hamburg 1925, S. 102, 104, online:
https://www.rosalux.de/publikation/id/40066)

Auch nach dem Zweiten Weltkrieg, als die Kommunistische Internationale bereits aufgelöst und Sinowjew selber als ‚Verräter‘ liquidiert war, galt diese Linie weiterhin. Fred Oelßner, seines Zeichens SED Chefideologe veröffentlichte 1952 ‚eine kritische Biographische Skizze‘ zu Rosa Luxemburg, in welcher er auf die Schrift Zur russischen Revolution einging. Zwei gut ausgewählte Zitate, die wir bereits weiter oben im Text kennengelernt haben, hebt er dabei hervor: „In Rußland konnte das Problem nur gestellt werden. Es konnte nicht in Rußland gelöst werden“. Außerdem: „Wir alle stehen unter dem Gesetz der Geschichte, und die sozialistische Gesellschaftsordnung läßt sich eben nur international durchführen“. Diesem weit- und scharfsichtigen Ausblick von Luxemburg hält Oelßner (1952, S. 184f.) entgegen: „Auch in dieser Frage hat die Geschichte nicht Rosa Luxemburg, sondern den Bolschewiki, Lenin und Stalin recht gegeben. Die Oktoberrevolution blieb siegreich, der Sozialismus wurde aufgebaut, und das Sowjetvolk hat heute erfolgreich den Übergang zum Kommunismus eingeleitet“ –Kein Kommentar.

Christian Hofmann

1 Alle hier nicht anders gekennzeichneten Zitate beziehen sich auf genanntes Manuskript. In Luxemburgs Gesammelten Werken ist der Text in Band 4 abgedruckt, im Internet frei verfügbar, wenn auch versehen mit den unsäglichen und unwürdigen SED konformen Anmerkungen aus dem Jahr 1974.

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