Communistische Arbeitszeitrechnung
Zur Überwindung des Systems von Profit, Lohnarbeit und Geld, kurz des Kapitalismus, ist es notwendig, auch seine ökonomische Basis – die Warenproduktion – zu überwinden.
Jede menschliche Gesellschaft muss Produkte zur Befriedigung der Bedürfnisse ihrer Mitglieder herstellen – Nahrung, Kleidung, ein Dach über dem Kopf, Kultur usw. Dafür muss sie außerdem auch die Produktionsmittel, also Werkzeuge, Maschinen und andere Arbeitsmittel produzieren, die wiederum Voraussetzung für so gut wie alle Arbeitsprozesse sind. In unserer heutigen Gesellschaft werden alle diese Produkte für den Verkauf, für den Austausch auf dem Markt produziert. Sie werden nicht unmittelbar zur Befriedigung der Bedürfnisse der Mitglieder dieser Gesellschaft(en) hergestellt, sondern sind zunächst in privatem Besitz und müssen ausgetauscht werden. Erst dann können sie konsumiert werden. Dadurch werden die Produkte zu Waren mit einem Wert. Dieser ist keine Natureigenschaft der produzierten Güter, sondern liegt in dieser gesellschaftlichen Verfasstheit der Produktion. Aber: Die Menschen könnten die Dinge auch einfach als nützliche Gebrauchsgüter zur Befriedigung ihrer Bedürfnisse herstellen – „ohne Dazwischenkunft des vielberühmten ‚Werts’“, wie Friedrich Engels bemerkte. Dazu bedarf es allerdings einiger gesellschaftlicher Veränderungen.
Der Wert ist die Erscheinungsform, die die gesellschaftliche Arbeit in einer warenproduzierenden Gesellschaft annehmen muss. Obwohl er heute eine zentrale Kategorie der kapitalistischen Produktionsweise ausmacht, ist er nirgendwo an der gesellschaftlichen Oberfläche sichtbar oder greifbar. Zum Vorschein kommt er zunächst durch Geld und Preise. Die Preise schwanken – nach Angebot und Nachfrage – um den Wert der Waren. Der Warenwert ist dabei proportional zu der in ihr vergegenständlichten gesellschaftlich notwendigen Arbeit. Der Austausch führt dazu, dass Waren ihren Tauschwert in anderen Waren darstellen müssen. Sie bekommen einen Preis. Geldverhältnisse entwickelten sich und daraus später Kapital und Lohnarbeit. Wer die Lohnarbeit und den Kapitalismus abschaffen will, muss auch ihre Elementarformen beseitigen, die zu ihrem Entstehen geführt haben: den Wert und die Ware. Voraussetzung für den Tausch, für Kauf und Verkauf, ist der Besitz der Waren in privater Hand. Dies ist der Fall, da ihre Produktionsbedingungen ebenfalls in privater Hand sind. Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass der Privatbesitz der Produktionsmittel abgeschafft werden muss, wenn die Produktion durch die Bedürfnisse der Menschen gelenkt werden soll. Nur so können sie die Verfügungsgewalt über die Produktion ihrer Güter erhalten.
Unter den Voraussetzungen der kapitalistischen Produktionsweise macht es keinen Unterschied, ob das Eigentum an den Arbeitsmitteln einer einzelnen Person oder einer Gruppe gehört. Egal ob Einzelne, private Firmeninhaber, Aktiengesellschaften oder Zusammenschlüsse von ökologisch wirtschaftenden Biobäuer:innen – Eigentum an den Arbeitsmitteln und Produktion für den Markt führen zu Wertformen und ziehen Lohnarbeit, Geld und Profitwirtschaft nach sich. Nur der Gemeinbesitz der ganzen Gesellschaft, also aller, an den Produktionsmitteln macht Produktion jenseits von Geld- und Wertverhältnissen möglich. Erst dann wird es möglich sein eine Gesellschaft aufzubauen, die ihre Produktion nicht am Profit, sondern an den Bedürfnissen der Menschen und an den Grenzen, die die Natur setzt, ausrichtet. Diese communistische Produktion ist bedürfnis- oder gebrauchsgutorientierte Produktion.
„Es gibt also kein ‚gutes Geld‘, das wieder ‚in den Dienst der Menschen‘ gestellt werden könnte. Das Geld ist auch nicht neutral in dem Sinne, dass durch eine andere Verwendung desselben, z. B. durch eine Regulierung von Banken, seine negativen Auswirkungen (von Armut über die Klimakrise bis zur Zeitarbeit) quasi verboten und abgeschafft werden könnten. Und zwar deshalb, weil alle seine entwickelteren Formen, Aktien, Anleihen, Kredite usw. usf., schon im Geld und einfachen Warentausch ihre Keimformen – und in den entwickelten Geldverhältnissen auch ihre Notwendigkeit – haben.“ (Goodbye Kapital, 74).
Wer von Communismus bzw. bedürfnis- oder gebrauchsgutorientierter Produktion spricht, muss den Markt folglich überwinden. Der Markt ist kein neutrales Medium zur Verteilung von Produkten oder ein universelles Werkzeug zur effizienten Zuweisung von Ressourcen. Markt setzt zwangsläufig voraus, dass die Güter auf ihm Warenform annehmen, Werte und Preise haben und diese schließlich über den Profit die Produktion regulieren. Wenn der Markt überwunden ist, bedarf es natürlich trotzdem einer Organisation und Planung der dann gesellschaftlichen Produktion. Die Gesellschaft muss also Ziele festlegen und die Umsetzung dieser planen und überwachen. Diese Ziele betreffen in erster Linie die Befriedigung der individuellen und gemeinschaftlichen Bedürfnisse der Menschen. Damit dies gelingen kann, muss dafür gesorgt werden, dass nicht nur die Endprodukte, die Konsumtionsmittel, sondern auch alle Vorprodukte, Rohstoffe, Maschinen ausreichend verfügbar sind und die dann freien Produzent:innen (für möglichst abwechslungsreiche) Tätigkeiten passend qualifiziert sind. Mit der Komplexität und Dynamik der Produkte und Technologien steigen die Ansprüche an die Organisation. Eine kleine Gruppe selbstversorgender Landwirt:innen kann einen einfachen Überblick über die notwendigen Arbeiten etc. erhalten, bei der Ver- und Entsorgung einer modernen Großstadt wird es bereits komplizierter. Erst recht bei der Produktion eines Computers oder eines weltweiten Datennetzes. Wem sowohl ein hohes Maß an gesellschaftlicher Bedürfnisbefriedigung als auch die natürlichen Grenzen des Ökosystems am Herzen liegen, kann an Mechanismen einer bewussten Planung unmöglich herumkommen.
Menschliche Arbeit sowie Naturstoffe und -kräfte sind die Quellen des stofflichen Reichtums. Ob die Dinge der Form nach als Waren oder als Produkte zur unmittelbaren Bedürfnisbefriedigung hergestellt werden – sie sind das Produkt von Arbeit und enthalten etliche Vorprodukte, die wieder in anderen Zusammenhängen/ Betrieben produziert werden und ebenfalls das Resultat von Arbeit sind. Dazu Rohstoffe, die oft aus verschiedenen Erdteilen kommen und ebenfalls Arbeit für Anbau, Abbau und/oder Transport beinhalten. Unter allen gesellschaftlichen Bedingungen muss die benötigte Arbeit organisiert und geplant werden. Auch bei communistischer Produktion reicht es nicht aus, nur ‚ungefähr‘ zu wissen, wie viel Arbeit benötigt wird. Auf Messen der Arbeitszeit, die zur Herstellung eines benötigten oder gewünschten Produktes aufgewendet werden muss, kann (auf absehbare Zeit) nicht verzichtet werden. Es bleibt vielmehr unbedingt notwendig.
Heute drücken der Wert und der Preis – über den Umweg des Marktes – aus, wie viel Arbeitszeit, wie viele Arbeitsstunden für ein Produkt aufgewendet wurden. Ohne Markt wäre die direkt gemessene Arbeitszeit die Recheneinheit einer Aufwandsrechnung – sie wäre die Grundlage der Arbeitszeitrechnung. Wer diese konsequent umsetzt, könnte nicht nur ohne die ‚Dazwischenkunft‘ des Wertes produzieren, sondern könnte damit auch gleich auf seine Verkörperung im Geld verzichten. Rechnen mit Arbeitszeiten – Arbeitszeitrechnung – im Gegensatz zur Kostenrechnung des Kapitalismus. Anders als vielen Kommunist:innen im 20. Jahrhundert war dies den Begründern der kommunistischen Theorie übrigens bewusst. Um dies zu verdeutlichen sei an dieser Stelle zunächst ein längeres Zitat von Friedrich Engels gestattet:
„Sobald die Gesellschaft sich in den Besitz der Produktionsmittel setzt und sie in unmittelbarer Vergesellschaftung zur Produktion verwendet, wird die Arbeit eines jeden, wie verschieden auch ihr spezifisch nützlicher Charakter sei, von vornherein und direkt gesellschaftliche Arbeit. Die in einem Produkt steckende Menge gesellschaftlicher Arbeit braucht dann nicht erst auf einem Umweg festgestellt zu werden; die tägliche Erfahrung zeigt direkt an, wieviel davon im Durchschnitt nötig ist. Die Gesellschaft kann einfach berechnen, wieviel Arbeitsstunden in einer Dampfmaschine, einem Hektoliter Weizen der letzten Ernte, in hundert Quadratmeter Tuch von bestimmter Qualität stecken. Es kann ihr also nicht einfallen, die in den Produkten niedergelegten Arbeitsquanta, die sie alsdann direkt und absolut kennt, noch fernerhin in einem nur relativen, schwankenden, unzulänglichen, früher als Notbehelf unvermeidlichen Maß, in einem dritten Produkt auszudrücken und nicht in ihrem natürlichen, adäquaten, absoluten Maß, der Zeit. Ebensowenig wie es der Chemie einfallen würde, die Atomgewichte auch dann auf dem Umwege des Wasserstoffatoms relativ auszudrücken, sobald sie imstande wäre, sie absolut, in ihrem adäquaten Maß auszudrücken, nämlich in wirklichem Gewicht, in Billiontel oder Quadrilliontel Gramm. Die Gesellschaft schreibt also unter obigen Voraussetzungen den Produkten auch keine Werte zu. Sie wird die einfache Tatsache, daß die hundert Quadratmeter Tuch meinetwegen tausend Arbeitsstunden zu ihrer Produktion erfordert haben, nicht in der schielenden und sinnlosen Weise ausdrücken, sie seien tausend Arbeitsstunden wert. Allerdings wird auch dann die Gesellschaft wissen müssen, wieviel Arbeit jeder Gebrauchsgegenstand zu seiner Herstellung bedarf. Sie wird den Produktionsplan einzurichten haben nach den Produktionsmitteln, wozu besonders auch die Arbeitskräfte gehören. Die Nutzeffekte der verschiednen Gebrauchsgegenstände, abgewogen untereinander und gegenüber den zu ihrer Herstellung nötigen Arbeitsmengen, werden den Plan schließlich bestimmen. Die Leute machen alles sehr einfach ab ohne Dazwischenkunft des vielberühmten »Werts«.“
(Aus MEW 20, S. 288, online unter http://www.mlwerke.de/me/me20/me20_239.htm)
In unserem Buch ‚Goodbye Kapital‘ haben wir diesen Gedanken ausführlich und ohne lange Zitate entwickelt. Es handelt davon, wie unsere moderne Gesellschaft auf dem Stand der heutigen Produktivkraftentwicklung zu einer communistischen Arbeitszeitrechnung – jenseits von Wert und Geld – übergehen kann. Ein paar Zitate, die das oben gesagte zusammenfassen, vermitteln an dieser Stelle einen Eindruck:
„Die vorhandenen Ressourcen sind die Rohstoffe und die gesellschaftliche Arbeitskraft sowie die bestehenden Arbeitsmittel. Die Arbeitskraft muss verausgabt werden, arbeiten, um ein Produkt in bestimmter Qualität erzeugen zu können – und zwar für eine bestimmte Zeitdauer, die durch den Stand der Technik und die verfügbaren Hilfsmittel gegeben ist. Diese Zeit kann gemessen werden und diese Zeit ist, im Durchschnitt, auch bereits vor der Produktion durch die ‚tägliche Erfahrung‘ bekannt – und wird in den Unternehmen bereits bei der Produktentwicklung geplant.
Gesellschaftlich notwendige Durchschnittsarbeit(-szeit) ist also die grundlegende Rechnungsgröße, die eine Planung ermöglicht – Arbeitszeitrechnung. So wie die Ware und die Darstellung ihres Wertes in Geld die Zellformen in der entwickelten Marktgesellschaft sind, sind das Produkt (das keine Ware ist) und die zu seiner Herstellung benötigte durchschnittliche Arbeitszeit die Zellformen der geplanten Produktion. Der Geldausdruck, Messung der Arbeitszeit in etwas Drittem, entfällt, es kann ein direktes Maß der Arbeit, die Zeit, verwendet werden. Dieses quantitative Maß ist dann allerdings schon ein gesellschaftliches Maß.“ (Goodbye Kapital, S. 81/82).
„Wie gesehen, ist der Wert keine Natureigenschaft der Produkte. Er entsteht durch die Arbeitsteilung unter den Gesellschaftsmitgliedern und dem darauf beruhenden Privateigentum der Arbeitsmittel. Besäße die Gesellschaft diese Arbeitsmittel, sähe die Sache anders aus. Die Gesellschaft bräuchte einen Überblick, über wie viel Arbeitsvermögen sie verfügt, welche Güter und Dienstleistungen wie viel Arbeit erfordern, und sie müsste entscheiden, in welche Bereiche sie wie viel Arbeit stecken will. Die einzelnen Mitglieder würden ihre Arbeit für die Gesellschaft leisten und nicht für Privatbesitzer*Innen und erhielten ihre Konsumtionsmittel von der Gesellschaft. Beschäftigte […] würden ihre Arbeitskraft nicht an Unternehmer*Innen verkaufen müssen. Sie würden vielmehr unmittelbar für die Gesellschaft arbeiten. Statt acht könnten sie beispielsweise sechs Stunden arbeiten, drei für ihre Bedürfnisse, eine für neue Investitionen, eine für ökologische Innovation und eine für nicht Arbeitsfähige wie Kranke, Alte, Kinder etc. […]
Geld ist heutzutage die Verfügung über fremde Arbeit, die Arbeit anderer, und als Kapital die Aneignung von mehr Arbeit, als man bezahlt. Würde die Gesellschaft die Arbeitsmittel besitzen, könnte sie auch direkt über die Arbeit bestimmen. Geld als solches wäre dann weder möglich noch nötig. […] Statt blinder Produktion für den Markt eine rationale Planung. Die produzierten Güter wären nicht zum Austausch (im Sinne von Kauf und Verkauf) bestimmt, würden keinen Wert mehr besitzen und Geld wäre überflüssig“ (Goodbye Kapital, 70f).
„In der Arbeitszeitrechnung finden wir die gesellschaftlichen Funktionen wieder, die in der Warenwirtschaft das Geld übernommen hat: Messen, Vermitteln und Repräsentieren. Allerdings nicht in der gegenständlichen Gestalt eines anderen Wertes, sondern unmittelbar.“ Was die Verteilung anbelangt, haben wir es im Buch folgendermaßen vorgeschlagen: Es „könnten Hilfsmittel – ähnlich den Formen des Geldes – die genannten Funktionen übernehmen. Und zwar ohne dass sie weiterhin Geld wären, da dessen Voraussetzungen entfielen. Für die Verteilung von Konsumtionsmitteln könnte das bedeuten: Der*die Einzelne gibt der Gesellschaft Arbeit und kann dementsprechend Produkte beziehen. Logisch wären Arbeitszeitkonten, auf denen geleistete Arbeitszeit gutgeschrieben wird, für welche dann Güter und Dienstleistungen erworben werden könnten“. (Goodbye Kapital, 72/ 82)
Unter diesen Voraussetzungen wäre die ökonomische Fremdbestimmung durch Marktgesetze, durch Konkurrenz, durch Unterordnung der Arbeit unter das Kapital, durch Befehl und Gehorsam endlich bewältigt. An ihre Stelle könnten die bewussten Entscheidungen der freien Produzent:innen treten – die Selbstregierung der durch gemeinschaftliches Eigentum miteinander verbundenen Menschen.
Philip & Chris
assoziation.info April '21